Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.

Matthäus 9, Vers 13

Jeder kennt sie:

Die gutmenschlichen Pharisäer und Moralapostel, die auf eine “korrekte Sprache” und die “korrekten Ansichten” achten und deshalb auch dort etwas aufspüren, wo eigentlich nichts zu finden ist, Und ehe man sich versieht, ist man ein “Rechter”, was soviel wie “Nazi”, “Faschist”, “Rassist” usw. heißt.

Wie gut, dass es das unter Christen nicht gibt! Oder vielleicht doch?

Jedenfalls fällt mir manchmal auf, dass es solches auch im christlichen Lager gibt, wenn auch unter anderen Vorzeichen.

Auf was ich hinaus will ist folgendes:

Paulus schreibt, dass unser Wissen und Erkennen Stückwerk ist, und das gilt natürlich auch für alles theologische Wissen. Wenn wir in der Bibel lesen – und das sollten wir täglich und ständig tun – dann fällt uns auf, dass z.B. im Neuen Testament dieselben Ereignisse unterschiedlich berichtet werden, die Bibel scheinbare Widersprüche enthält, vieles bildhaft ist, manches dunkel bleibt und vieles ganz unterschiedlich gesehen werden kann.

Und das, finde ich, ist ja gerade das Großartige an der Bibel, dass man in ihr endlos forschen kann, ohne je auf einen Grund zu kommen.

Unsere Glaubenslehren, denen wir vertrauen, stehen so nicht in der Bibel, sondern sind theologische Schlussfolgerungen, die sich aus dem Wort Gottes ergeben, wobei nicht sicher ist, ob wirklich alles vollständig und richtig erkannt wurde.

Weil das so ist, bedarf es, bei aller Treue zu Gott und seinem Wort, einer gewissen Offenheit, bei der man auch andere Ansichten gelten lässt. Der schmale Weg darf dabei aber weder breiter noch enger gemacht werden.

Es gibt nun treue und ehrenwerte Christen, die sich auf ganz bestimmte Sichtweisen festgelegt haben, von deren absoluten Richtigkeit sie so fest überzeugt sind, dass es zu einem Schubladendenken und Denkschablonen kommt.

Und da fehlt nicht viel, um alles das, was nicht genau haargenau auf der als richtig erkannten Linie liegt, des Abfalls, des Verrats am Glauben, der Irrlehre, “ökumenischer Umtriebe der Religionsvermischung” usw. usf. zu verdächtigen.

Und dabei wird selbst vor dem eigenen Lager nicht halt gemacht. Wer zur Besonnenheit und Prüfung rät, sich einen weiteren Blick verschafft hat, läuft Gefahr gleich mit in die entsprechende Schublade gesteckt zu werden.

Ich denke, dass der heutige Vers nicht sinnentstellt wird, wenn man das Wort “Opfer” durch das Wort “Formalismus” ersetzt. Denn so, wie dem Opfer Opfervorschriften zugrunde lagen, liegt manchem Glaubens- und Schriftverständnis vergleichbares gesetzliches Denken zugrunde.

Der Glaube ist dann nichts Froh- und Freimachendes mehr, nichts was stärkt, ermutigt und aufbaut, sondern etwas, wo genaue Regeln einzuhalten sind, und wo ein strafender Gott mit erhobenem Zeigefinger darauf achtet, dass alles richtig gemacht und genauestens beachtet wird, wobei bei Verstößen mit
Sanktionen bis hin zu Höllenstrafen zu rechnen ist.

Ein solcher “Glaube” verunsichert, bringt in Ängste, Nöte und Konflikte. Es ist
das, was man als Fundamentalismus in einem unguten Sinn, bezeichnen muss.

Sollte Gott nicht auch hier mehr Wohlgefallen an Barmherzigkeit als an einer engen Sichtweise haben?

Ob Gott einen demütigen, barmherzigen Menschen, der IHM in allen Stücken vertraut, nicht auch dann annimmt, wenn dieser nicht alle Zusammenhänge, zwischen Erbsünde, Umkehr, Kreuzestod, Auferstehung, Wiedergeburt usw. verstanden hat?

Hier wollte ich mir kein Urteil erlauben.

Gott ist Liebe, lesen wir in der Schrift, und ER ist als Schöpfer und Erhalter aller Menschen größer als unser Herz, und es wäre schlimm, wenn ER im Gericht die Maßstäbe, die wir anlegen, auch uns gegenüber anlegen müsste.

Jörgen Bauer