Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern richtet gerecht.

Johannes 7, Vers 24

Der heutige Vers, ein Wort Jesu, war Lehrtext im Losungsbüchlein und hatte mich sofort angesprochen und nachdenklich gemacht. Diese Aussage liegt auf der biblischen Linie, wonach der Mensch sieht, was vor Augen ist, während Gott das Herz ansieht.

Als Menschen sind wir nur allzuleicht geneigt, nach dem zu urteilen, was vor Augen ist. In vielen Fällen geht das auch gar nicht anders. Beim Beurteilen einer Sache ist man auf Fakten angewiesen, und das ist in aller Regel das, was dem Messen und Wägen zugänglich ist, also dem, was vor Augen ist und sich datenmäßig erfassen lässt.

Auch Zeugen sehen nur das, was vor Augen ist. Zeugenaussagen zählen
deshalb nicht zu den zuverlässigsten Beweismitteln.

Das ganze Rechtsleben läuft so ab, dass nur Beweise oder zwingende
Indizien zählen. Die Betroffenen klagen dann nur allzuoft darüber, dass sie ungerecht behandelt wurden. Dass vor dem Gesetz alle gleich sind, ist bei Licht besehen, eine Notlösung. Einfach deshalb weil wir nichts Besseres haben, als uns an den beweisbaren Fakten zu orientieren, also an dem
was wir “vor Augen” haben. Dabei kann naturgemäß vieles, z.B. das, was vorhanden, aber nicht bewiesen werden kann, nicht berücksichtigt werden.

Deshalb ist es eine große Verheißung, wenn wir in der Schrift lesen, dass Christus einmal mit Gerechtigkeit regieren wird, wo alles Verborgene ans
Licht kommt und berücksichtigt wird. Ebenso dürfen wir schon jetzt auf
Gott als den gerechten Richter vertrauen, der ins Verborgene sieht.

Gerechtigkeit in des Wortes voller Bedeutung kennen wir nämlich überhaupt nicht. Ein Richter kann deshalb zu einem Kläger sagen: “Was wollen Sie,
Gerechtigkeit? – Ein Urteil könn’se kriegen!” Und ich sage: “Recht und
Gerechtigkeit stehen im gleichen Spannungsverhältnis zueinander wie Politik und Moral, beides muss nichts miteinander zu tun haben.”

Wir würden allerdings schrecklichen Schiffbruch erleiden, wenn wir versuchen wollten, nach Gefühl und dem zu urteilen, was, für uns unsichtbar, in eine Sache mit hineinspielt. Wir wären dann nicht mehr objektiv, sondern auf eine ungute Weise subjektiv.

Aber auch unsere objektive Gerechtigkeit ist nicht unbedingt die Gerechtigkeit, die im Sinne Gottes ist. Wir sollen uns also nicht nur an dem orientieren, was im Rechtsleben als richtig gilt oder zur gesellschaftliche Norm erhoben wurde, sondern gerecht richten. Das ist eigentlich eine ungeheure Provokation, sagt es doch nichts anderes, als dass menschliche Gesetze und Normen unzulänglich sind.

Nur ein Beispiel: Wenn jemand wegen Trunkenheit am Steuer den
Führerschein verliert, hat das für einen Sonntagsfahrer nur Unbequemlichkeiten, für den Berufskraftfahrer aber die Existenz-
vernichtung zur Folge. Der Berufskraftfahrer wird also erheblich härter
“bestraft”.

Um das gerechte Richten geht in dem Text, in dem der heutige Vers steht, wo Jesus beklagt, dass man ihn wegen angeblicher Verletzung des Sabbatgebots verurteilt. Er war am Sabbat heilend tätig geworden und hatte damit “gearbeitet”, was damals verboten war, wobei das göttliche Gebot der Sabbatheiligung durch menschliche Satzungen noch verschärft worden war.

Und da folgt dann der Vers: Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern richtet gerecht. Jesus hatte am Sabbat einen Menschen geheilt und das war eigentlich viel wichtiger, als das Halten des Sabbatgebots. Seine Kritiker sahen hier aber ausschließlich nur die Verletzung dieses Gebots.

Wird heute manchmal nicht auch so geurteilt: Da wird, oftmals recht spitzfindig, nur die Verletzung einer formalen Vorschrift oder Norm gesehen und dabei übersehen, dass dafür etwas überaus Positives und Lobenswertes getan wurde. Gerecht richten, würde hier bedeuten, den gesamten Fall zu sehen. Man merkt, wie brisant diese Thematik bis heute ist.

Wenn der heutige Vers dazu beiträgt, dass wir uns wieder mehr bemühen, den anderen zu verstehen und nach den Motiven und Gründen für sein Tun oder Sosein zu forschen, und dabei auch unsere eigenen Unzulänglichkeiten nicht aus dem Blick verlieren, wäre schon viel gewonnen.

Und was Regelverletzungen anbelangt, muss jeder selbst prüfen wann er Gott mehr gehorchen muss, als menschlichen Satzungen.

Jörgen Bauer