Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.

Römer 12, Vers 10

Was ist Ehrerbietung? Ein Begriff, der in unserer Alltagssprache kaum noch vorkommt. Unter “Ehrerbietung” verstand man ein mehr devotes, unterwürfiges Verhalten, mit dem man sich einer “Respektsperson” näherte.
In alten Geschichten liest man dann zum Beispiel, “dass der Herr Baron, bei seiner Ankunft auf dem heimatlichen Gutshof, vom Gesinde ehrerbietig begrüßt wurde”.

Also, ich möchte so nicht begrüßt werden.

Aber was ist nun “ehrerbietig” in dem Sinne, wie es Paulus versteht? In
“Ehrerbietung”, stecken die Begriffe “Ehre” und “bieten”. Man könnte dazu sagen, ich biete dem anderen etwas, nämlich Achtung und Respekt, mit dem
ich ihm entgegentrete.

Und damit wäre ich beim eigentlichen Thema.

Früher habe ich manchmal gedacht, dass Christen, die sich in der Hand ihres Herrn wissen, “härter im Nehmen” sein müssten, “mehr wegstecken” könnten und der “Wahrheit über sich” – bzw. das, was andere für die Wahrheit halten – gelassener ins Augen sehen könnten.

Und das ist ein ganz großer Irrtum. Wir müssen uns immer wieder klar machen, dass wir Christen keine besseren Menschen sind, sondern nach wie vor unsere Eitelkeiten, Schwachstellen und Empfindlichkeiten haben.
Und auch für Christen gilt: “Alles können die Menschen vertragen, nur eines nicht, nämlich die Wahrheit.”

Und deshalb besteht die geschwisterlich Liebe und Ehrerbietung meines Erachtens darin, dass man auf menschliche Schwächen Rücksicht nimmt und die Glaubensgeschwister behutsam und einfühlsam, gewissermaßen wie “rohe Eier” behandelt.

Dabei muss man auch erkennen, dass es zartbesaitete Menschen gibt, die gerade deshalb, weil sie empfindsam sind, christliche Kreis aufsuchen, weil sie
hoffen dort auf Verständnis zu stoßen.

Deshalb tun wir gut daran alle Menschen – nicht nur die Mitchristen – ohne Ansehen der Person zu achten, zu respektieren und ganz bewusst als Ebenbilder Gottes wahrzunehmen, in denen uns Gott selbst nahe kommt.

Wenn wir uns diese Sichtweise angewöhnen, wirkt sich das im Umgang mit unseren Glaubensgeschwistern und Mitmenschen sehr vorteilhaft aus.

Was andererseits aber niemals heißen kann, alles unter den Teppich zu kehren
und nur noch Schönzuschwätzen. Das ist mit Ehrerbietung keinesfalls gemeint.
Aber was zu sagen ist, kann auch einfühlsam und in der Weisheit des Heiligen
Geistes gesagt werden.

Im übrigen rate ich immer zur Vorsicht und bringe gern das Beispiel, dass jemand einen unscheinbaren Menschen dumm anlabert – um kurze Zeit darauf, eben diesem Menschen gegenüberzustehen, der sich plötzlich als maßgeblicher
Entscheidungsträger, in einer für ihn wichtigen Sache, erweist. Peinlich, peinlich!

Letztens waren wir mal in Oettingen, wo der Fürst von Oettingen-Wallerstein residiert. Ich habe zu hause noch etwas geblödelt und zu meiner Frau gesagt,
“in Wallerstein dürfen wir nicht zu jedem ‘du Depp, du Rindvieh’ sagen, es könnte ja der Fürst sein.

Und wie es der Zufall will, kamen wir, wegen unseres Hundes, mit einem Herrn ins Gespräch, wo wir hinterher erfahren haben, dass das tatsächlich der Fürst
gewesen ist.

Schon deshalb: Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor.

Jörgen Bauer