Nächstenliebe ganz praktisch

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Zwei Männer unterhalten sich im Bus. Ein Thema – und zehn Haltestellen später wissen alle, dass sie sich nicht einigen werden. Der eine lädt Fakten nach, der andere Volumen. Am Ende steigen beide mit rotem Kopf aus, und eine ältere Dame seufzt: „Früher hat man sich wenigstens zugehört.“ Genau hier beginnt praktische Nächstenliebe. Nicht als warmes Gefühl, sondern als respektvolle Art, einem Menschen zu begegnen, den ich spontan nicht mag – oder dessen Meinung mich nervt. „Barmherzigkeit“ klingt groß, „Respekt“ klingt klein. Aber Respekt ist Barmherzigkeit in Alltagsschuhen.

Wir sollten uns wieder an grundsätzliche Dinge unseres Glaubens erinnern. Z.B. an Lukas 10: „Schließlich näherte sich ein Samaritaner. Als er den Mann sah, empfand er tiefes Mitleid.“ – Der Samariter teilt keine Herkunft, keine fromme Partei, kein Lager. Er sieht, bleibt stehen, lässt sich innerlich bewegen. Frag nicht abstrakt, „was du äußerlich tun sollst“. Schau auf den Nächsten vor dir. Aber Achtung! Religiöse Routinen ersetzen keine Liebe. Beten, Spenden, Gottesdienst – alles gut. Am Leidenden, am Schwachen und Unterdrückten vorbeigehen – fatal. Martin Luther drückte es so aus, dass Christsein bedeutet, innerlich ein „Arzt“ zu sein und außen „ein lastbares Tier“, das andere trägt.

Nächstenliebe unterscheidet – und verbindet. Sie bügelt Unterschiede nicht weg, sie überbrückt sie. Der Samariter bleibt Samariter, der Verwundete bleibt Jude; aber die Grenze hat nicht das letzte Wort. Nächstenliebe beginnt mit sehen, geht über sich innerlich bewegen lassen und wird praktisch: verbinden, aufladen, mitnehmen, für den anderen bezahlen (Lukas 10, 33–35). Respekt ist dafür kein Softskill, sondern tätige Liebe. Ohne Handlung bleibt er höfliche Gleichgültigkeit.

Fähig zu solcher Liebe macht uns der Glaube – nicht als einmal bezogener Standpunkt, sondern als lebendige Bindung an Christus. Eine Verbindung zu Jesus, die Herz und Hände in Bewegung setzt. Glaube, der nichts von dem tut, was die Früchte des Heiligen Geistes erkennen lässt, ist kein Glaube an Jesus, der einer Prüfung standhält.

Der Samariter wird „in seinem Gewissen zum Arzt“ und „von außen ein lastbares Tier“. Das Gewissen diagnostiziert, was jetzt dran ist. Nämlich Diagnose statt Empörung, Heilung statt Verletzung und Selbstprüfung statt Selbstgerechtigkeit. Und außen trägt er, was dem anderen zu schwer ist – auch wenn er dessen Weltbild nicht teilt. Das ist echte Demut. Lasten tragen, Wunden verbinden, Wege mitgehen. Das ist keine Theorie mehr, sondern Liebe ganz praktisch, wie es Jesus verlangt.

Nächstenliebe beginnt mit Hinsehen und Hinhören. Gib die Position des anderen so fair wieder, dass er nicken kann – „Ich höre: Für dich ist X wichtig, weil Y“ – das entspannt. Nimm Tempo raus, denn Reaktionszeit ist Verantwortung. Das bedeutet, erst fragen, dann sagen – „Hilft dir meine Sicht gerade oder brauchst du ein Zuhören?“ Verbinde Wunden mit kleinen, konkreten Gesten. Ein Anruf nach dem Streit, ein Kaffee, eine Einladung, eine Bitte um Vergebung – kleine Akte sind große Medizin. Vertiefe nicht Gräben und vermeide, wo du kannst, Wunden zuzufügen. Trage andere, statt zu triggern. Prüfe, ob dein Beitrag dem Menschen dient oder nur deinem Sieggefühl. Liebe sucht Heil, nicht Triumph. Achte auf deine Worte, sie können verbinden oder verletzen. Gräben schaffen und vertiefen oder Brücken bauen.

Der Samariter hätte genau wie die anderen, die vor ihm da waren, auch sagen können: „Nicht mein Lager, nicht mein Problem.“ Stattdessen macht er das Fremde, seinen Gegner zum Nächsten. Das ist kein Kuschelkurs, sondern Herausforderung.

Stell dir vor, der Samariter wäre an dir vorbeigegangen, weil deine Meinung ihn nervt. Kühl? Genau. So kühl fühlt es sich an, wenn wir aneinander vorbeiziehen. Das Evangelium ruft wärmer: „Im Gewissen ein Arzt, außen ein Träger.“ Heute liegt die Entscheidung bei dir. Wähl nicht den Applaus der eigenen Gruppe, wähl Heilung und Versöhnung. Eine faire Frage, ein langsamer Satz, ein kleiner Verband – mehr braucht es oft nicht, um die Welt an einer Stelle zu reparieren. Wo fängst du an?

Und genau darin leuchtet das Evangelium auf: Gott ist uns in Christus nicht aus dem Weg gegangen, obwohl wir „anders“ waren. Er blieb stehen, verband, trug – bis zum Kreuz. Wir haben unverdient Gnade bekommen.
Wer so geliebt wird, darf selbst anfangen, so zu lieben. Aufmerksam, respektvoll und belastbar. Nicht, um zu gewinnen, sondern um zu heilen. Das gehört auch zur Nächstenliebe für unsere Zeit.

Vielen Dank fürs Lesen!

Dein Peter


Schließlich näherte sich ein Samaritaner. Als er den Mann sah, empfand er tiefes Mitleid. 

Lukas 10, 33