Gott der Vater? Der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Ursprung allen Seins? Klingt alt. Fühlt sich fern an. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn junge Menschen das Wort „Vater“ hören, dann zuckt es vielleicht irgendwo zwischen Respekt, Ratlosigkeit oder sogar Schmerz.
Der eigene Vater mag in unterschiedlicher Form abwesend, überfordernd oder gar nicht bekannt sein. Manche haben einen „Vater“ nie erlebt, weil manche Väter ihre Rolle nicht wahrgenommen haben und ihren Kindern das Vater-sein schuldig geblieben sind. Andere haben einen liebevollen Vater erlebt, doch auch der ist nicht perfekt. Und dann kommt da die Bibel mit ihrem „Vater im Himmel“ – wie soll man das heute zusammenbringen?
Die Bibel spricht erstaunlich oft von Gott als Vater. Schon im Alten Testament, etwa in Jesaja 64, 7: „Aber nun, HERR, du bist unser Vater; wir sind der Ton, und du bist unser Töpfer.“ Hier ist Gott nicht der polternde Patriarch, sondern der, der formt, gestaltet, behutsam knetet. Und Jesus steigert es noch weiter, wenn er Gott nicht nur „Vater“ nennt, sondern „Abba“.
Viele Götter der Antike wurden als launisch, machtversessen und eitel beschrieben. Sie hörten selten zu, schickten Blitze oder forderten Opfer. Da ist der Gott der Bibel völlig anders: „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, die ihn fürchten“ (Psalm 103, 13). Martin Luther schreibt: „Gott ist ein Vater, der mehr geben will, als wir bitten.“ Er ist also kein manipulativer „Machtmensch“, sondern ein Vater, der ruft, trägt, tröstet und einen voranbringt.
Genau hier liegt die Kraft dieses biblischen Vaterbilds. Es hebt nicht das Irdische auf ein Podest, sondern durchbricht es. Gott ist nicht ein verlängerter Arm menschlicher Väter. Er ist der Vater, den wir uns oft nur wünschen konnten: zugewandt, treu, gerecht, voll Geduld.
An dieser Stelle könnten Kritiker einwenden, dass die Darstellung Gottes als „Vater“ in der Bibel kulturell bedingt ist und im Kontext einer patriarchalischen Gesellschaft gesehen werden muss. Daraus resultiert die Unterdrückung der Frau und Überbewertung des Mannes. Auch der Gedanke, dass es Anhaltspunkte dafür gäbe, Gott müsse eine Frau oder beiden Geschlechts sein.
Nachfolgend will ich etwas ausholen, damit man versteht, warum wir von Gott als „Vater“ sprechen.
Die Bibel ist reich an metaphorischer Sprache und gibt uns viele Stellen, die Gott nicht nur als „Vater“ zeigen. Z.B. als Fels (Psalm 18 ,3), Adler (5. Mose 32, 11), Hirte (Psalm 23, 1), gebärende Frau (Jesaja 42, 14) und Mutter (Jesaja 66, 13).
Es gibt auch zahlreiche Stellen, die die weiblichen Erfahrungen und Eigenschaften als Teil des Wesens Gottes beschreiben. Aber die Bibel vermeidet konsequent, Gott als „Mutter“ direkt anzureden. Einer der Gründe könnte in den damaligen antiken Kulturen liegen. Das wäre sofort mit Fruchtbarkeitsgöttinnen assoziiert worden. Israel grenzte sich bewusst von den heidnischen Religionen ab, in denen es Göttinnen wie Aschera, Isis, Demeter oder Ischtar gab.
Die biblischen Autoren greifen auf Vaterbilder zurück, wie sie in den patriarchalischen Gesellschaften ihrer Zeit verstanden wurden – als Symbole für Autorität, Fürsorge und Herkunft. Der Vater ist der absolute Mittelpunkt, der Zeuger, Herr und Verwalter allen Lebens und Besitzes der Familie. Er war die unbestreitbare Quelle, von der die Nachkommen nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr gesamtes materielles und soziales Erbe empfingen, was die Fortführung der Linie und des Namens und der eigenen Existenz garantierte.
Doch die biblischen Autoren blieben dabei nicht stehen. Vielmehr deuten sie diese Bilder um bzw. transformierten sie: Der Gott Israels ist kein despotischer Familienpatriarch, sondern „barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte“ (2. Mose 34, 6)
Gott wird nicht mit einem biologisch-männlichen Körper beschrieben, sondern als ein Gott, der über dem Geschlecht steht. Er ist der Ursprung beider Geschlechter und hat sie als sein Abbild geschaffen (1. Mose 1, 27). Und mit „als Abbild geschaffen“ ist nicht der Körperbau bzw. der biologische Geschlechteranteil gemeint, sondern die Beziehungsfähigkeit, Identität, Verantwortung, Würde, Geistbegabung. Alles Merkmale, die Menschen, in Form von Mann und Frau, als Ebenbilder Gottes auszeichnen. Nicht in der Addition, sondern in der von Gott gestifteten Gemeinschaft. Durch die eben genannten Merkmale entsteht mit dem Schöpfer die Ganzheit, also Vollkommenheit oder auch „Heil-Sein“ (d.h., was zuvor in Ordnung geraten war, wird geheilt). Paulus schrieb dazu: „Im Herrn ist weder die Frau ohne den Mann, noch der Mann ohne die Frau.“ (1. Korinther 11, 11)
Gott ist Geist (Johannes 4, 24) und nicht Teil der geschöpflichen Ordnung von biologischem Geschlecht. Doch als Ursprung aller Geschlechtlichkeit umfasst er beide Dimensionen – männlich und weiblich – in seiner schöpferischen Fülle. Gott selbst ist nicht geschlechtlich. Der Mensch spiegelt Gottes Wesen nicht im Körperbau, sondern im Sein, Handeln, Beziehungsfähigkeit und Fähigkeit zu Liebe und Freiheit. Wenn wir also von Gott als „Vater“ sprechen, dann nicht im biologischen Sinne, sondern im Sinne einer personalen Beziehung, wie sie sich aus der Offenbarung ergibt.
Aus diesem Grund sollten wir nicht in die beiden Extremen verfallen, nämlich dem patriachalen Irrtum, dass „männlich“ näher an Gott sei und dem modernen Irrtum, dass wir Gott durch menschliche Geschlechterverständnisse erklären könnten.
Der Begriff „Vater“ ist aber nicht nur ein symbolisches Hilfsmittel, sondern Ausdruck einer durch die Offenbarung gegebenen Beziehung: Jesus spricht Gott mit „Abba“ an – ein Wort, das Nähe, Vertrauen und Zugehörigkeit ausdrückt.
Die ältesten biblischen Quellen bestätigen, dass Jesus Gott als Vater angeredet hat. Jesus verwendete im Aramäischen das Wort „Abba“ (z. B. in Gethsemane, Markus 14, 36). „Abba“ ist eine intime, liebevolle und zugleich respektvolle Anrede, die oft mit „Papa“ oder „lieber Vater“ übersetzt wird. Diese Anrede Gottes war im damaligen Judentum höchst progressiv und gegen alle Gewohnheiten. Aber Jesus wollte die Mitmenschen nicht schockieren oder auf diese Weise Aufmerksamkeit erregen.
Auch hat Jesus mit „Abba“ nicht etwas völlig Neues produziert. Er knüpfte konsequent an die Tradition aus dem Alten Testament (z.B. 5. Mose 32, 6; Jesaja 63, 6; Jeremia 31, 9) und personalisierte sie in seiner eigenen Person. Sie ist eine einzigartige Sohnbeziehung zu Gott. Wenn Jesus „Vater“ sagt, offenbart er diese einzigartige innere Dynamik Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Kein Gott der Distanz, sondern ein Gott der Nähe.
Diese Sohn- oder Kindbeziehung machte Jesus seinen Nachfolgern zugänglich. So lehrte Jesus seinen Jüngern, im Gebet Gott als „Unser Vater“ anzusprechen (Matthäus 6, 9; Lukas 11, 2). Er gab ihnen damit Anteil an seiner eigenen Gebetspraxis und seiner intimen Beziehung zu Gott. Dies war ein radikaler Bruch mit den vorherrschenden Gottesvorstellungen und eröffnete den Menschen einen neuen Zugang zu Gott.
Diese neue Gottesbeziehung blieb nicht abstrakt oder theoretisch – sie wurde persönlich und erfahrbar. Was Jesus seinen Jüngern gelehrt hat, gilt auch dir: Du darfst beten wie ein Kind, das mit seinem Vater spricht. Und genau das verändert alles.
Wenn du also betest, redest du mit einem Vater, der dich kennt – selbst dann, wenn du dich selbst nicht verstehst. Wenn du fällst, hebt er dich auf. Wenn du feierst, freut er sich mit. Und wenn du rebellierst? Dann lässt er dich laufen – aber wartet auf dich mit offenen Armen. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15) kann man das gut nachlesen.
Gott der Vater – das ist ein Versprechen, dass du nicht allein bist und dein Wert nicht an Leistung hängt. Du gehörst dazu. Nicht, weil du perfekt bist, sondern weil du sein Kind bist. Und das gilt nicht nur für „brave Kirchenleute“, sondern für jeden, der sich auf diesen Vater einlässt.
Ihr
Munir Hanna
für das Evangeliumsnetz e.V.