Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters.

Hesekiel 18, Vers 20

In dem Buch “Sprechstunden mit Deinem Ich” von Ernst zur Nieden,
wird von einem Jungen berichtet, der kein Selbstwertgefühl entwickeln
konnte und deshalb im Leben versagte.

Als er noch klein war, hatte er einmal etwas Unrechtes getan, weshalb
er von seiner Mutter bei jeder Gelegenheit daran erinnert wurde, was
für ein schlechter Kerl er doch sei.

An diese Geschichte fühle ich mich regelmäßig erinnert, wenn ich, wie
jüngst wieder, Reden zum “Tag der Befreiung” höre, wo Politiker oder
Kommentatoren darauf abheben, dass die deutsche Schuld, und hier
insbesondere der Holocaust, gar nie vergessen werden darf, sondern
die Erinnerung daran für alle Zeiten lebendig gehalten werden muss.

Tatsächlich geht es dabei nicht um Erinnerung, sondern ganz eindeutig
darum den Schuldvorwurf lebendig zu halten, aus dem sich dann stän-
dige Verpflichtungen ableiten lassen.

Und das ist nicht gut, zumal die heutige Generation mit dem Dritten
Reich nichts mehr zu tun hat, so dass sich weder die Frage
nach einer tatsächlichen oder auch nur moralischen Schuld stellt.

Im christlich abendländischen Denken, spielt die Vergebung, verbunden
mit einem Neuwerden und einem Neuanfang eine große Rolle. Wobei ver-
geben nicht vergessen heißt. Vergeben heißt, dem Schuldigen seine
Schuld nicht länger moralisierend vorzuhalten.

Im Rechtsleben kann man als Rechtsnachfolger auch Schulden erben
oder übernehmen. Aber das ist nicht mit Schuld-, Scham- und Reue-
bekenntnissen verbuden.

Vorfahren können durch ihr Verhalten Schäden angerichtet haben,
unter deren Folgen die Nachkommen zu leiden haben. Man denke
nur an den Sündenfall, dessen Folgen ausnahmslos über alle Men-
schen gekommen sind und die die Ursache für alle Untaten sind,
die ausnahmslos von allen Menschen angerichtet werden.

Beim heutigen Vers geht es aber um ganz persönliche Tatsünden, die
den Nachkommen nicht angelastet werden können.

Der Grundsatz “Auge um Auge und Zahn um Zahn” ist dem Christen-
tum fremd. Wer das nicht so sehen kann, der wird ihm widerfahrenes
schweres Unrecht für alle Zeiten als ein besonders exklusive Unrecht
wahrnehmen, das sich mit anderem Unrecht, und sei es noch so schwer,
in keiner Weise messen kann.

Das Mindeste was man bei einer solchen Haltung erwarten muss ist,
dass die wirklichen oder auch nur vermeintlichen Nachkommen der
Täter, für alle Zeit reuemütig in Sack und Asche gehen.

Als Christen, denen Gott ständig einen Neuanfang schenkt und die
aus der ständigen Vergebung leben, müssen wir auch da nicht mit-
machen, sondern können aufrecht gehen, ohne dabei Geschehnisse
zu leugnen oder unter den Teppich kehren zu müssen.

Jörgen Bauer