Erntedank im Überflussland

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Im Supermarkt schiebt ein Mann zwei Einkaufswagen vor sich. Er scrollt auf dem Handy durch Sonderangebote, packt Bio-Bananen und Proteinriegel ein, diskutiert dann mit der Kassiererin über den Pfandbon und schiebt sich dann noch nervös eine Tafel „zur Belohnung“ oben drauf. Auf dem Heimweg löscht er die Fitness-App-Erinnerung und denkt: „Ab morgen wird alles anders.“ Zu Hause angekommen wartet draußen der Lieferdienst mit der Pizza, denn Kochen dauert zu lang. Vielleicht erkennst du dich zum Teil wieder. Ich mich auch. Wir leben im Land der Optionen – und sind trotzdem oft hungrig nach mehr. Genau hier taucht am ersten Oktoberwochenende eines Jahres das Wort Erntedank auf. Zuerst wie ein Fremdkörper und ein Termin im Jahr, wie auch andere. Dann aber wie eine Einladung, um stehenzubleiben, zählen, was wirklich trägt, und fragen, wem wir dafür danken.

Vom Warenkorb zum Erntedank

Historisch ist das Erntedankfest älter als Kirchenbänke und Feiertagskalender. Schon bäuerliche Gemeinschaften feierten am Ende der Ernte, weil das Überleben vom Wetter, vom Boden und von ruhigen Monaten abhing. In allen Kulturen und auf allen Kontinenten gibt es etwas Vergleichbares wie den Erntedank. Gemeinsam ist all diesen Festen die Dankbarkeit für Versorgung, ein bewusstes Innehalten im Jahreslauf und das Teilen in der Gemeinschaft, oft mit Gaben für Bedürftige. Unterschiede liegen vor allem in religiöser Deutung und Kalender – mal mond-, mal sonnenorientiert. Mal dezidiert religiös, mal stärker kulturell oder national geprägt. Inhaltlich sind sie dem, was viele hier bei uns „Erntedank“ nennen, sehr nah, nämlich ein kollektives „Danke“ und ein leiser Hinweis, dass Fülle nicht selbstverständlich ist und Besitz Verantwortung für andere mit sich bringt.

In Europa haben sich daraus verschiedene Bräuche entwickelt: geschmückte Altarräume mit Brotlaiben, Ährenkränzen, Obstkörben; Prozessionen, Dankgebete, gemeinsames Essen. In Deutschland hat sich der erste Sonntag im Oktober eingebürgert. Später kamen Stadtkinder dazu, die keine Felder haben – aber Strom, Wasser, Lohn, Fahrzeuge, öffentliche Verkehrsmittel, WLAN. Damit verschiebt sich der Fokus: Erntedank ist längst nicht mehr nur Landwirtschaftsromantik. Es ist eine Lebenshaltung. Die oft übersehene Frage dahinter: Wer nährt uns eigentlich – und wie antworten wir darauf?

Die Bibel antwortet überraschend konkret. Es heißt: „Zur Nahrung gebe ich euch alle samentragenden Pflanzen und alle samenhaltigen Früchte von Bäumen – überall auf der Erde.“ (Genesis 1,29).
Wenn wir uns wissenschaftliche und fachliche Daten anschauen, dann kann unsere Erde mit Effizienzsteigerungen und modernen Methoden über 10 Milliarden Menschen ernähren. Bereits heute werden rund 20% der Lebensmittel zu viel hergestellt und zwischen 30 und 40 Prozent der Lebensmittel von den Menschen weggeworfen. Die heutige globale Nahrungsmittelproduktion reicht grundsätzlich, trotzdem hungern Hunderte Millionen, weil Zugang, Armut, Konflikte und Ungleichheit das Essen nicht zu den Menschen bringen. Das sorgt wie in einer Spirale für Konflikte um Ressourcen und Fluchtbewegungen, die keiner möchte.
Der Grundton der gerade erwähnten Bibelstelle ist nicht Mangel, sondern Geschenk. Die Welt wird als „sehr gut“ genannt – nicht perfekt im Sinn von ohne Arbeit, aber grundsätzlich tragfähig. Und wenn es gelingt, das eigene Können nicht zu verwechseln mit der Quelle, dann wird Dankbarkeit nicht peinlich, sondern präzise. Unser Gott ist der Schöpfer – damit meinen wir, dass er Ursprung und Erhalter des Lebens ist. Wer das im Alltag ernst nimmt, sagt beim Brotschneiden oder vor dem ersten Biss innerlich: Ich habe gearbeitet, ja. Aber dass Arbeit überhaupt etwas hervorbringt, ist geliehene Kraft und Gottes Segen.

Dankbarkeit als Wahrheit des Herzens

Der Begriff Segen klingt in manchen Ohren alt und irritierend, bedeutet aber schlicht, dass das gute Wirken Gottes das Leben und Gelingen möglich macht. In Psalm 67 beginnt Segen nicht bei der Bilanz, sondern beim Blick nach oben: „Das Land gibt seinen Ertrag; Gott segnet uns“ (Psalm 67, 7).
Dankbarkeit ist hier keine Tischmanier. Es ist eine Ausrichtung, die Segen nicht hortet, sondern weiterfließen lässt. Augustinus fragte mal: „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ Er bezieht sich dabei auf 1.Korinther 4, 7: „Wer sollte dir denn den Vorzug geben? Hast du etwas, was du nicht von Gott bekommen hast? Und wenn du es bekommen hast, was gibst du damit an, als hättest du es selbst gehabt?“ – Diese Frage entwaffnet Arroganz und öffnet die Hand.

„Dankbarkeit ist nicht nur die größte aller Tugenden, sondern auch die Mutter aller übrigen“, schrieb Cicero. Er meinte, wer danken lernt, ordnet sein Verhältnis zur Welt. Der Schriftsteller G.K. Chesterton spitzte es zu: „Dank ist die höchste Form des Denkens.“ Theologisch übersetzt heißt das: Danken ist nicht Dekoration, sondern Wahrheitsprüfung. Es trennt das „Ich bin der König meines Lebens“ von „Ich bin Teil eines größeren Ganzen“.
Ein kurzes biblisches Bild in Haggai 1, 6 macht das deutlich: „Du isst, wirst aber nicht satt; du trinkst, doch dein Durst bleibt“. Das ist keine Drohformel, sondern Diagnose. Wenn wir das Zentrum verwechseln – wenn Anerkennung, Konsum oder Selbstoptimierung zum heimlichen Gott werden – dann bleibt trotz Fülle ein Resthunger und immer die Angst, etwas zu verlieren, was man nie hatte. Nämlich Geborgenheit, Friede und Gottes schützende Hand. Je mehr eine Gesellschaft sich von Gott entfernt, undankbar wird und auf sich selbst fokussiert, umso weniger Segen fließt in diese Gesellschaft hinein.

Gleichzeitig beschreibt die Bibel in Psalm 145, 16 die Welt als reich: „Du öffnest deine wohltätige Hand, und alles, was lebt, wird durch dich satt.“ Die Spannweite ist spannend: genug für alle – und trotzdem Mangel. Woran liegt’s? Die Bibel nennt das „Gier“ – übersetzt: der Drang, mehr zu nehmen, als gut ist. Die Folge spürt man global: Nahrungsmittelverschwendung, zerstörte Böden, Flucht, soziale Spannungen. Es ist kein Naturgesetz, dass Menschen hungern oder leiden müssen. Oft ist es die Summe von Entscheidungen, die ohne rücksicht auf Gottes Gebote getroffen werden. Deswegen heißt Erntedank nicht: Wir feiern uns. Sondern: Wir erinnern uns, dass wir abhängig sind von einer Zuwendung, die wir nicht herstellen können, und wir bekennen, dass unsere Entscheidungen echte Folgen für andere haben.

Wie Erntedank in den Alltag findet

Albert Einstein soll einmal gesagt haben, es gebe zwei Arten, sein Leben zu leben: „Entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder.“ Ob er es exakt so formuliert hat, ist zweitrangig – die Pointe trifft. Dankbarkeit ist ein Wahrnehmungstraining. Sie sortiert den Tag neu: Frühstück als Geschenk, nicht als Kraftriegel-Tankstelle. Ein Chat mit Freunden als Gegenwart von Beziehung, nicht nur als Ablenkung. Lohn bzw. Gehalt als Versorgung, nicht nur als Score. Christsein ist dann weniger Regelwerk, mehr Charakterformung. Menschen, die empfangen können, gehen achtsamer mit Ressourcen um. „Die segnende Person wird selbst erfrischt“, heißt es sprichwörtlich in Sprüche 11, 25. Das ist Erfahrungswissen: Wer teilt, erlebt Weite.

Das Erntedankfest erinnert daran, dass die Erde genug hervorbringen kann, wenn wir sie nicht auspressen. Global denken heißt lokal handeln. Dankbare Menschen verschwenden weniger. Sie sehen den Wert. Ein Brot wird nicht hart, es hat eine zweite Chance z.B. als Auflauf. Kinder, die ihre Essensportion nicht aufessen, werden z.B. erzogen oder bekommen den Rest später vorgesetzt. Leitungswasser ist nicht „nur Wasser“, sondern täglicher Luxus für Milliarden Menschen, die ihn nicht so selbstverständlich haben. Dank heißt dann nicht, die Augen vor Ungerechtigkeit zu schließen, sondern genau hinzusehen und sich einzuklinken, wo Veränderung möglich ist: fairer einkaufen, politisch mitreden und Wahrheit und Respekt leben und einfordern, spenden, sich engagieren. Wer Gott dankt, schaut nicht weg, sondern wird aufmerksam.

Erntedank ist kein Jahrestermin, es ist ein Rhythmus. Jede Mahlzeit ist ein kleiner Erntedank. Ein kurzer Stopp, kein Theater, eher ein Atemzug: „Ich nehme wahr, dass mir gegeben wird.“ Wer so lebt, schützt sich vor dem „Es reicht nie“-Gefühl. Das Neue Testament fasst es schlicht: „Sagt Dank in allem“ (1.Thessalonicher 5, 18) – nicht, weil alles gut ist, sondern weil in allem eine Spur von Halt zu finden ist.

Geschichte trifft Gegenwart

Die Entwicklung des Festes zeigt, wie beweglich es ist. In Dörfern wurde nach der letzten Garbe gefeiert. Die Erntekrone war die „Krone“ des Jahres. Mit der Industrialisierung wanderte Erntedank in die Städte. Man schmückte keine Heuscheunen mehr, sondern Tische, auf denen auch Lohnzettel, Studienplätze, gelungene Therapien und Freundschaften liegen könnten – Dinge, die man nicht in Körbe packen kann und die doch „Nahrung“ sind. Heute ist Erntedank ein kulturelles Gedächtnis. Wir erinnern uns daran, dass Wohlstand nicht nur Produktivität ist. Der Philosoph Hans Jonas warnte vor der „Ethik der Verantwortung“: Technik gibt Macht. Verantwortung hält sie in Grenzen. Dankbarkeit zähmt Macht, weil sie anerkennt, dass wir sterbliche Mit-Geschöpfe sind und nicht Besitzer des Planeten.

Wer vergisst zu danken, dem passiert, was ich eben aus der Haggai-Stelle zitiert habe: Man isst und wird nicht satt, trinkt und bleibt durstig, verdient und hat doch Löcher im Beutel. Man könnte heute sagen: Der Algorithmus füttert dich, aber du fühlst dich leer. Dankbarkeit dreht das Script um. Sie macht genügsam, ohne kleinlich zu werden, und freigebig, ohne naiv zu sein. Dankbarkeit lehrt, „genug“ zu sagen – nicht aus Pflicht, sondern aus Freiheit.

Wenn dich dieser Text nur an ein schönes Herbstfoto erinnert, hat er sein Ziel verfehlt. Erntedank will in den Alltag rutschen. Probier es so, ganz ohne Checkliste. Nimm dir für die nächste Woche beim ersten Bissen oder Schluck drei Herzschläge Zeit und benenne leise, wofür du in diesem Moment dankbar bist. Sag’s gerne ausformuliert – wem auch immer du es sagst –, denn Worte erden Gedanken. Beobachte, wie sich dein Tempo verändert.

Schau dir in der gleichen Woche deinen Abfall an, nicht genervt, sondern neugierig. Wo landet Essen, das nie eine Chance hatte? Vielleicht entsteht ein neues Ritual. Z.B. ein Restetag, ein Kochen-mit-Freunden-Abend, ein fester Platz für die Brotbox im Rucksack. Kauf einmal weniger und dafür bewusster, nicht als Askese oder um Elitär zu sein, sondern als Respekt vor dem, was dich trägt – und vor denen, die weniger haben.
Wenn du betest, dann schlicht, ohne große Worte: „Danke, dass ich leben darf. Mach mich aufmerksam, damit ich teile.“ Und wenn du nicht betest, dann halte trotzdem kurz inne. Du wirst merken: Dankbarkeit macht weit. Sie ist, um mit Bonhoeffer zu sprechen, „die Mutter des Staunens“ – und vielleicht der Anfang eines Lebens, das satt macht.

Ihr
Munir Hanna
für das Evangeliumsnetz e.V.