Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?

Matthäus 7, 3

Eine Zeitlang gehörte es zu meinen beruflichen Aufgaben mich mit tätlichen
Auseinandersetzungen zu befassen, wozu ich auch die entsprechenden
Ermittlungsprotokolle zu lesen bekam. Dabei fiel mir besonders auf, dass ich es immer nur mit “Unschuldigen” zu tun hatte.

Wenn zwei Streithähne zu “versorgen” waren, konnte man darauf gehen,
dass beide, die genau gleiche Schilderung abgaben, die in etwa so lautete:

“Ich habe überhaupt nichts gemacht. Ich habe den anderen nur ganz leicht
gestupft und da hat der mir, ohne jeden Grund, sofort eine reingehauen.”

Demnach waren die oft erheblichen Blessuren, auf so etwas wie “höhere
Gewalt” zurückzuführen. Wenn dann doch nichts anderes übrig blieb, als eine Tat zugegeben, war das dann immer nur “reine Notwehr”, zu welcher der Betreffende “gezwungen” war.

Diese Berichte eigneten sich besonders gut, wenn es innerhalb des Kollegenkreises um Glaubensfragen ging, weil sich hier die Natur des Menschen
besonders gut demonstrieren ließ, wonach wir von Natur aus alle dazu neigen
unsere eigenen Taten in einem guten Licht und die der anderen “kritisch”
zu sehen.

Und nicht nur das: Es wird auch erkennbar, dass wir nicht aus der Wahrheit sind, sondern uns vielmehr eines “kreativen Umgangs mit der Wahrheit” befleißigen. Mit anderen Worten: Ein gestörtes Verhältnis zur Wahrheit haben.

So unterlassen wir es, ganz automatisch, bei dem, was wir anderen erzählen, Dinge zu erwähnen, die uns in ein weniger günstiges Licht stellen könnten. Wir erzählen also nichts von Blamagen oder davon, wo wir uns dumm angestellt haben oder etwas daneben gegangen ist. Und wenn, waren die “Anderen” schuld. Im Gegenzug werden die Dinge, die gelungen sind,
breit herausgestellt.

Deshalb war im Urlaub dann auch immer alles “ganz wunderbar”. Probleme haben wir überhaupt keine und unsere Kinder sind wahre Genies, die überall an erster Stelle stehen. Man könnte da direkt neidisch werden, wenn man die Leute so reden hört und dabei an die eigene Situation denkt.

Mir ist im Laufe der Jahre klar geworden, warum Behörden jede Menge von
Bescheinigung verlangen, nämlich deshalb, weil man den Leuten “nichts
glauben kann”. Es ist nicht so, dass die Leute vorsätzlich lügen würden (das tun manche auch) sondern sie berichten subjektiv, so, wie sie meinen, dass
die Dinge sind oder gewesen sind. Deshalb gehören Zeugenaussagen vor
Gericht auch zu den weniger brauchbaren Beweismitteln.

Und bei kritischer Selbstprüfung entdeckt man bei sich selbst so manches,
wo man einer Erinnerungsverfälschung oder einer Selbsttäuschung erlegen ist.
Das kann nachweislich so weit gehen, dass man sich an tatsächlich nicht
stattgefundene Ereignisse “erinnert”.

Der Geist Gottes soll uns hier zur Nüchternheit, Klarheit und Wahrheit verhelfen, mit der wir uns selbst nüchtern und ungeschönt wahrnehmen
können. Dem Christen ist das möglich, weil er sich von Gott angenommen
und geliebt weiß, weshalb er weder Gott, noch sich oder seinen Mitmenschen etwas vormachen muss. Denn er ist für Gott auch ohne Bestleistungen etwas wert. Und wachsen und vorankommen ist nur durch Selbsterkenntnis möglich. Das ist Teil der Freiheit zu der uns Christus befreit hat.

Jörgen Bauer